• 11. Mai 2020

Offener Brief der Eltern und Elternvertreter an NRW-Ministerpräsident Armin Laschet

Offener Brief der Eltern und Elternvertreter an NRW-Ministerpräsident Armin Laschet

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet,

da ist es nun also, das langersehnte Konzept für NRW, an dem seit dem 16. März 2020, also seit über 7 Wochen, so fieberhaft gearbeitet wurde: „Mindestens 50% der Kinder in NRW werden ihre Kita oder Tagespflege vor den Schulferien im Sommer maximal ein bis zweimal von innen sehen, ab September (oder zwischendurch) sehen wir dann weiter.“ Gratulation zu diesem Konzept!

„50 %“ bedeuten in Zahlen ca. 350.000 Kinder, deren Eltern teilweise nicht (mehr) in der Lage sind, ihre Kinder gut zu versorgen – in den Familien, die dem Jugendamt nicht sowieso schon gemeldet wurden, bleiben Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung weiterhin unbemerkt. Etliche Eltern müssen ihre Kinder mit zur Arbeit nehmen oder im Homeoffice arbeiten, haben sämtliche Urlaubstage aufgebraucht oder sogar ihren Job verloren. 350.000 Kinder, die seit fast 2 Monaten von liebevollen Laien bei Laune gehalten wurden, sollen auch bis September keine Fachkraft sehen, die sie fördert, bildet und professionell betreut.

Vorweg: Niemand fordert, dass in den Einrichtungen sämtliche Kinder im vertraglich vereinbarten Umfang betreut werden. Aber wir Eltern fordern die Betreuung von jedem Kind und zwar in dem Umfang, wie es die Familie tatsächlich braucht. Herr Minister Stamp weiß nicht, wie viele Eltern das Angebot der nochmals erweiterten Notbetreuung nutzen werden? Wie wäre es, wenn man die Eltern einmal fragt – dann könnte man ja auch ein Konzept entwickeln, oder nicht?

Aber die Kindertagesbetreuung bleibt wohl weiterhin ein Privatvergnügen. Unterstützung des Staates für „die übrigen“ 350.000 Kinder mit ihren Eltern? Fehlanzeige.

Die Kinder dürfen wieder auf Spielplätze und wir Eltern dürfen nun gegenseitig die Kinder bis September betreuen? Vielen Dank für die schallende Ohrfeige.

Denn was ist jetzt genau die Lösung? Wir können weiterhin zusehen, wie wir privat geregelt bekommen, was für unsere Kinder und uns ersatzlos gestrichen wurde?

Wo sind denn jetzt die Betreuungssettings, die bereits organisiert wurden? Turnhallen, Gemeindesäle, Jugendzentren, Ratssäle, Sportplätze oder Yogastudios stehen und standen leer! Es gibt Parks, Wälder und Spielplätze, wo Kinder toll betreut werden könnten, wenn eine Kita zu wenig Platz bietet. Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Übungsleiter, Trainer, PädagogikstudentInnen, FSJler, BuFDis und auch ErzieherInnen sitzen oder saßen zu Hause, während die Kinder und Eltern über ihre Grenzen und darüber hinaus belastet werden! Wieso wurden in den letzten 7 Wochen keine unterstützenden Kräfte für die Kitas und zusätzliche Räumlichkeiten organisiert? Wieso haben die Jugendämter die Träger dabei nicht unterstützt? Herr Laschet, wieso haben Sie noch kein Geld dafür zur Verfügung gestellt aus dem riesigen Corona- Rettungsschirm?

Immer wieder wird erwähnt, dass das Ministerium im engen Austausch mit den Trägern zusammenarbeitet. Offenbar haben die Träger aber große Schwierigkeiten, kreative Lösungen zu finden. Mehrfach wurde darauf verwiesen, dass kleine Kinder keinen Abstand halten könnten oder angemerkt, es sei nicht kindgerecht, wenn Fachkräfte Masken zum eigenen Schutz tragen. Die Konsequenz dieser Argumente? Die Kitas betreuen einfach weniger Kinder, da die Träger ihre Mitarbeiter schützen möchten und diese sehr große Angst um sich und die Kinder haben. Bemerkenswerte Argumentationskette.

Wieso wird eigentlich in Altenheimen nicht ebenfalls lediglich eine „Notbetreuung“ angeboten? Auch diese Fachkräfte können nicht geschützt werden. Sollen die Kinder oder Enkel doch „mal eben“ die Pflege ihrer älteren Angehörigen übernehmen- sie sind ja schließlich blutsverwandt. Geht nicht? Warum nicht? „Fachkräfte sind dort in Gefahr, denn es kann kein Abstand gehalten werden, wenn man menschenwürdig betreuen möchte! Maximal die Notfälle sollten dort betreut werden!“ Warum wurde das eigentlich nie diskutiert?

Aber zurück zu den Kindertageseinrichtungen: Die Landesregierung NRW war ja von Beginn an großzügig und hat die Weiterfinanzierung von Kitas und Tagespflege sehr schnell abgesichert. Sicher war es wichtig, dass kein seriöser Träger wegen Unterfinanzierung schließen muss und Kinder in NRW mit ihren Familien nach der Krise wohlmöglich noch schlechter dastehen als vorher. Denn auch vorher herrschte bereits ein massiver Platzmangel. Man fragt sich allerdings heute, welchen Anreiz nun ein Träger oder eine Tagespflegeperson hat, möglichst kreative Wege zu finden, um zusätzliche Kinder zu betreuen. Eventuell keinen?

Virologen haben bereits durch Studien belegt, dass Kinder keinesfalls eine größere Rolle als Erwachsene bei der Übertragung des Coronavirus haben. Und das muss man sich in diesem Zusammenhang dann mal auf der Zunge zergehen lassen: Frisöre wurden wiedereröffnet, Kontaktsportarten werden wieder erlaubt, Spielplätze sind offen. Abstand halten? Ach, wozu denn?! Autohäuser, Restaurants und Möbelgeschäfte, wurden geöffnet- Supermärkte nie geschlossen – wie Abstand halten dort geht, kann man sich ja vor Ort einmal ansehen.

Aber Kindertageseinrichtungen – da kann ja kein Abstand gehalten werden. Da können laut Landesregierung „in engem Austausch mit den Trägern und Gewerkschaften“ maximal 50% der Kinder zugelassen werden! Und das obwohl jeder Kontakt nachvollziehbar wäre und schon immer Hygienekonzepte vorliegen mussten, was ebenfalls zwei wesentliche Aspekte bei der Pandemiebekämpfung sind! Auch die Grundschulen werden ab Montag wieder für alle Kinder geöffnet! Dort scheint das Bewusstsein bereits zu herrschen, dass jedes Kind ein Recht auf Bildung hat, weshalb in diesem Bereich auch Konzepte erarbeitet wurden, wie man 300 Kinder in Zeiten einer Pandemie betreuen kann.

Was sind unsere Kindertageseinrichtungen denn eigentlich? Babysitter-Dienste, die man für die Hälfte der Kinder ersatzlos streichen kann? Prima, dann soll uns der Fachkräftemangel auch nicht weiter interessieren – brauchen wir ja nicht, können die Erziehungsberechtigten übernehmen. Zusätzliche Betreuungsplätze schaffen, um vorhandene Bedarfe abdecken zu können? Wozu – Kinder können doch auch zu Hause bleiben, wenn die Spielplätze geöffnet werden! Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern? Warum? Mutti und Vati machen das doch im Homeoffice nebenbei!

Oft wurde in diesen Zeiten geäußert, dass in der Krise deutlich wird, was wirklich systemrelevant ist und auch in Krisen zwingend aufrechterhalten werden muss. Sie macht uns allerdings auch sehr deutlich, was es nicht lohnt aufrecht zu erhalten. Einrichtungen von Trägern, die jetzt, nach 7 Wochen Corona-Break, immer noch keine kreativen Lösungen finden konnten um alle ihre Kinder in „pandemietauglichen“ Settings zu betreuen, sind nicht systemrelevant. Jugendämter, die die Träger dabei nicht unterstützen und Eltern keinerlei Alternative anbieten: ebenfalls nicht systemrelevant. Politiker, die keine finanziellen Mittel bereitstellen und keine echten Lösungen präsentieren, sind genauso entbehrlich wie die Vorgenannten.

Corona-Elterngeld? Eine Lohnersatzleistung? Es geht mittlerweile nicht mehr um Lohnausfälle oder eine kleine Belohnung für „die Umstände“. Angebracht wäre ein Schmerzensgeld und zwar für die Ignoranz der Politik – vom Stadtrat bis zum Bundestag, die den Familien mit kleinen Kindern bisher entgegengebracht wurde! Und zwar nicht nur jetzt in der Krise, sondern schon lange davor. Keine Regierungspartei der letzten Jahre hatte die Familien mit kleinen Kindern ernsthaft im Blick, denn sonst hätten wir längst qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung für jedes Kind und zwar flächendeckend. Mit kleinen Gruppen, ausreichend Fachkräften, wunderbaren Gebäuden, bedarfsgerechten Betreuungszeiten – und zwar kostenlos. Damit würden sich die heutigen Diskussionen über Personalkapazitäten und ungeeignete Räumlichkeiten deutlich entschärfen. Darüber hinaus müsste man auch nicht jeden Monat aufs Neue herumdrucksen, ob Eltern auch in der Krise zur Kasse gebeten werden.

Aber wer ist verantwortlich? Der Bund verweist auf das Land, das Land auf die Kommunen, die Kommunen auf die örtlichen Träger. Die örtlichen Träger wiederum auf die Kommune, diese auf das Land – wieder bis ganz „nach oben“. Ein lustiges Hin- und Herschieben der Verantwortung für die Kinder- und Jugendhilfe. Offenbar kann niemand etwas ändern – ach wie schade.

By the way… die Trägervielfalt mag ein hohes Gut in der Jugendhilfe sein. Es erwächst aber immer mehr der Eindruck, dass sie im Bereich der Kindertagesbetreuung vielleicht weniger sinnvoll ist, als bisher angenommen. Was nutzen Träger, wenn sich die Kommunen und die Landesregierung mit ihrer Unterstützung bei der Erfüllung des Rechtsanspruches quasi erpressbar machen und sich wieder und wieder freikaufen müssen?

Wenn dem Wohl von über 350.000 Kindern und ihren Familien so wenig Wert beigemessen wird und ihnen ein Stück Daseinsvorsorge über Monate vorenthalten wird. Wenn sich „die Träger“ nicht dazu in der Lage sehen, den Rechtsanspruch zu erfüllen. Dann fordern wir die öffentlichen Träger auf, die Bildungseinrichtungen für Kinder vor dem Schuleintritt zukünftig selbst zur Verfügung zu stellen. Funktioniert bei den Schulen ja auch – sogar ohne Gebühren.

Wir verzichten dankend auf eine weitere Zusammenarbeit mit kirchlichen, freien und privaten Trägern, wenn sie uns so hängen lassen! Öffentliche Träger? Sorgen Sie dafür, dass Sie ihren Job besser machen! Wenn 20 von 22 ErzieherInnen nicht in die Risikogruppe fallen, dann müssen mehr Kinder in die Notbetreuung aufgenommen werden, ohne dass die Eltern darum betteln müssen. Es muss aufhören, dass uns Träger ein schlechtes Gewissen machen, wir würden das Leben der Fachkräfte riskieren! (Auch das möge man sich bitte in einem Krankenhaus, Altenheim oder Supermarkt vorstellen!) Sind die Fachkräfte nun systemrelevant – oder können sie in der Krise einfach wegfallen?

Zurück zur lang erwarteten Pressekonferenz – sprach Herr Minister Stamp ernsthaft von einer Sommerpause? Hat er Pause gesagt??? Ja, hat er. Aber wer hat dann Pause? Die Fachkräfte? Die Träger? Die Politiker? Unzählige Familien haben keine Pause!

Zu Ihrer Information, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet: Der rechtliche Anspruch besteht auch in „Ferienzeiten“, wenn die Erziehungsberechtigten ihre Kinder nicht selbst betreuen können. Dass sich unzählige der über 10.000 Kitas in NRW nicht daran halten, sondern jährlich drei der sechs Sommerferienwochen komplett schließen, ändert sich in diesem Jahr hoffentlich erstmals, wenn sich alle Eltern auf Paragraf 22a im SGB VIII bzw. den aktuellen Paragrafen 13e, Abs. 4 des KiBiz bei den Jugendämtern berufen. Auch hier ist wohl keine Regelung von der Landesregierung zu erwarten, denn wie mehrfach betont, liegt der Ball ja meist und auch hier bei den Trägern. Man möge sich bitte bewusst machen, dass 100% der o.g. Kinder einen rechtlichen Anspruch auf frühkindliche Bildung und Erziehung haben und dass 100% der Eltern dieser Kinder eine Betreuung vertraglich zugesichert wurde. Seit mindestens zwei Monaten ist bekannt, dass verschiedene Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie geeignet sind. Dazu gehört maßgeblich die Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten und deren schnelle Unterbrechung. Dies kann bei der Kindertagesbetreuung hervorragend in kleinen Betreuungssettings gewährleistet werden – daher besteht wohl keine Grundlage, weiterhin den Rechtsanspruch nicht zu erfüllen.

Es reicht! Wir haben keine Lobby – es wird sich offenbar nichts verbessern, wenn wir uns nicht lauthals wehren. Wir setzen Sie darüber in Kenntnis, dass wir Eltern, denen das Wasser bis zum Hals und darüber hinaus steht, die rechtlichen Ansprüche unserer Familien nun dahingehend prüfen lassen, ob eine weitere Verweigerung unter den aktuellen Gegebenheiten zulässig ist.

Und sollten Sie dazu übergehen, ohne Datenlage zum Infektionsgeschehen bei Kindern, die Kitas und Tagespflegestellen bei steigenden Infektionszahlen wieder „runterzufahren“, versprechen wir Ihnen eins: Unsere Stimmen bekommen Sie nicht mehr.

Wir sind viele – und wir werden an der Wahlurne nicht vergessen, wie die Familien in der Krise im Stich gelassen wurden.

Hochachtungsvoll,

Landeselternbeirat der Kindertageseinrichtungen NRW,

JAEB Alsdorf, KERBS Bad Salzuflen, JAEB Bedburg, JAEB Bergheim, JAEB Bielefeld, JAEB Kreis Borken, JAEB Bornheim, JAEB Bünde, JAEB Datteln, JAEB Dormagen, JAEB Dorsten, JAEB Duisburg, JAEB Kreis Düren, JAEB Düren, JAEB Düsseldorf, JAEB Emsdetten, JAEB Ennepetal, JAEB Erftstadt, JAEB Eschweiler, JAEB Gelsenkirchen, JAEB Gevelsberg, JAEB Goch, JAEB Greven, JAEB Gummersbach, JAEB Hattingen, HEB Hennef, JAEB Hilden, JAEB Kerpen, JAEB Kleve, JAEB Leichlingen, SER Leverkusen, JAEB Lohmar, JAEB Märkischer Kreis, JAEB Menden, JAEB Minden, JAEB Mönchengladbach, SER Mülheim/Ruhr, JAEB Nettetal, JAEB Oberhausen, JAEB Oer- Erkenschwick, JAEB Paderborn, JAEB Pulheim, JAEB Ratingen, JAEB Remscheid, JAEB Rheda- Wiedenbrück, JAEB Rheinbach, JAEB Rheine, JAEB Siegburg, JAEB Siegen, JAEB Soest, JAEB Solingen, JAEB Kreis Steinfurt, JAEB Stolberg, JAEB Velbert, JAEB Viersen, JAEB Voerde, JAEB Warstein, JAEB Werne, JAEB Wesel, JAEB Würselen, Jasmin Wester (Bad Honnef), Claudia Desnave (Beckum), Stefanie Gutwald (Beckum), Jessica Grigo (Detmold), Alexandra Grämmel (Detmold), Tobias Müller (Frechen), Katja Sundag (Haan), Sandra Reinhold (Heiligenhaus), Familie Altenhofen (Hilden), Katrin Schmidt (Wetter/Ruhr), Ann-Kristin Boas, Stefanie Flecken, Michaela Hertrampf, Alexandra Janzen, Carina Kurz, Frauke Pannenborg, Yvonne Pfliegner, Angela Polte, Katrin Salzmann, Igor Topalovic

auch interessant

Schulinterne Berufsmesse an den August-Hermann-Francke Schulen

Schulinterne Berufsmesse an den August-Hermann-Francke Schulen

Detmold. Die Berufswelt bietet heute eine große Vielfalt an Möglichkeiten, was fürSchulabgänger sowohl eine große Chance…
Kurse für die Kleinsten der Johannes-Brahms-Musikschule

Kurse für die Kleinsten der Johannes-Brahms-Musikschule

Detmold. Nach den Sommerferien starten in der Johannes-Brahms-Musikschule Kurse im musikalischen Elementarbereich: Los geht es mit…
Aneignung und Entfremdung

Aneignung und Entfremdung

18. Jugendkunstschultage NRW am 20. und 21. Juni in Unna 33 Jahre nach den ersten Wittener…